Two Wings to Fly – Open Mind

Dieser Artikel gecrossspostet auf Telepolis.

Zu den Flügeln in deutschen Parteien mit Blick auf die Piratenpartei

Als sich die Delegierten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903 zu ihrem Parteitag in London trafen, standen einige grundlegende Weichenstellungen an. Die Mehrheit von ihnen wollte in nächster Zeit Arbeiterräte und Gewerkschaften gründen, den Bildungsstand der Bevölkerung anheben und grundlegende soziale Reformen anstoßen. Dies sollte die Grundlage bilden für eine langsame evolutionäre Verbesserung der Situation der Menschen.

Eine Minderheit der Delegierten jedoch wollte nicht länger warten. Sie wollten die Revolution, am besten sofort. Die Meinung der uninformierten Massen war ihnen dabei weitgehend egal, da ihnen vorschwebte, die Leitlinien der Partei durch eine kleine Gruppe von Berufsrevolutionären in einer straff durchorganisierten Kaderpartei zu bestimmen.

Da sie sich mit ihren Positionen nicht durchsetzen konnten, zermürbten sie die Anwesenden mit Geschäftsordnungsanträgen. Nachdem eine Gruppe von sechs Delegierten die Versammlung verlassen hatte, konnten sie eine knappe Mehrheit mobilisieren, um die Abstimmungen über das Parteistatut und die Wahlen zum Zentralkomitee zu dominieren. Die eigentlich in der Partei sich in der Minderheit befindende Gruppe nannte sich von da an Bolschewiki, zu deutsch Mehrheitler, die anderen Menschewiki (Minderheitler). Die beiden Gruppen arbeiteten noch einige Jahre zusammen, bis sie sich im Jahr 1912 trennten. 1917 übernahmen die Bolschewiki die Macht in Russland, die meisten Menschwiki mussten in der Folge das Land verlassen.

Die Parteienstruktur in Deutschland

Mittlerweile sind die Zeiten etwas ruhiger. In Deutschland gibt es humanere Wege, um mit den verschiedenen Strömungen innerhalb einer Gruppe umzugehen. In allen großen deutschen Parteien gibt es mindestens zwei Flügel, die miteinander konkurrieren und ergänzen.

In der SPD sind das die Seeheimer und die Netzwerker auf der einen und die Parteilinken auf der anderen Seite. Bei CDU/CSU gruppieren sich die Flügel um die Frage, was der Begriff Konservatismus bedeutet. Dass es bei Bündnis 90/Die Grünen Realos und Fundis (heute Parteilinke) gibt, ist allseits bekannt. Mittlerweile wird die Pluralität dort jedoch immer stärker angezweifelt.

In der Linkspartei sind die Flügel komplexer, da sie aus zwei unterschiedlichen Organisationen zusammen ging. Die Realos werden repräsentiert durch das Forum demokratischer Sozialismus (früher: Forum Zweite Erneuerung ) und das Netzwerk der Reformlinken auf der einen Seite, durch Antikapitalistische Linke und Sozialistische Linke auf der anderen. Ergänzt wird dies durch die flügelunabhängige emanzipatorische Linke (Ema.Li), welche der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens offener gegenüber steht als andere Linke. So stehen sich hier in einer wilden Melange Ost und West, Bewahrer des Erbes der PDS (unter anderem in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) und linkskeynesianisch-reformkommunistische Positionen gegenüber.

Zu beobachten ist, dass sich die Flügel der großen Parteien vor allem um Verteilungsfragen gruppieren, das heißt der eine Flügel ist meist wirtschaftsnäher, der andere gewerkschaftsnäher. Bei den kleineren Parteien dreht sich vieles um die Frage, ob man Regierungsbeteiligung um jeden Preis anstrebt oder im Zweifel auch bereit ist, Opposition zu betreiben. Zu allen diesen kommen natürlich noch (zum Teil sehr mächtige) Arbeitsgemeinschaften und weitere Netzwerke.

Und bei den Piraten?

Bei den Piraten gibt es noch keine klar definierten oder identifizierbaren Flügel. Natürlich gibt es Netzwerke und Piraten, die besser mit den einen können, als mit anderen. Aber bislang gab es nichts, was in der Qualität an das heranreicht, was man in anderen Parteien so sieht und was dort ja teilweise sogar mit Generalsekretären ausgestattet wird (Andenpakt, CDU/CSU) oder mit eigener Mitgliederdatenbank (Seeheimer, SPD). Auch die Diskussionen um Programmerweiterungen sind meistens überraschend friedlich und werden weitgehend konsequenzenlos akzeptiert.

Der erste echte tiefer gehende Streit der Piraten rankte sich im Sommer 2010 um die Modalitäten der Einführung des Online-Partizipationstools LiquidFeedback. Die teils unvereinbar wirkenden Positionen bewegten sich zwischen absoluter Klarnamenspflicht und komplett anonymer parteiinterner Mitbestimmung. Noch immer schwelt die Frage und ist bisher nur unzureichend mit Kompromissen geklärt worden. Nahtlos ging diese Debatte über in die Existenz der datenschutzkritischen Spackeria. Diese erregte durch ihre Medienpräsenz in Kombination mit Namen und Stoßrichtung die Gemüter vieler Piraten. Immerhin – und das muss man mal festhalten – war dies quasi die erste längere Auseinandersetzung, die sich an inhaltlichen Fragen orientierte.

Zur Folge hat dies oft, dass sich die Medien ihre Flügel selbst definieren. Als es 2010 um die Programmerweiterung ging, wurden zwei Lager definiert: das progressive Pro-BGE-Lager rund um Deutschlands Nord-Osten und das konservative Contra-BGE-Lager, vor allem aus den südlichen Bundesländern. Ähnliches geschah bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden im Mai 2011, als trotz zahlreicher Kandidaten die Wahl künstlich zu einem Showdown zwischen einem eher gemäßigteren LiquidFeedback-kritischen, südlichen Nerz und dem progressiven LiquidFeedback-Fan Lauer aus Berlin hochstilisiert wurde.

Vor- und Nachteile der Flügellosigkeit

Nun, was bedeutet es also für die Piraten, dass es keine offiziellen Flügel gibt, bzw. dass es keine offizielle Anerkennung der Interessenströmungen gibt? Erspart es wertvolle Energien, die sonst für interne Flügelkämpfe draufgehen würden oder macht man es Neu- wie Altmitgliedern schwerer, sich in den Entscheidungsfindungsprozessen der Partei zurechtzufinden, und verschenkt wertvolle Aufmerksamkeit, in der beide Seiten zu Wort kämen, statt nur eine von den Medien willkürlich ausgewählte Person? Sicherlich – und das wurde auch im Vortrag betont – ist die Partei ja erst fünf Jahre alt und daher ist der Bedarf nach Flügeln noch nicht ausreichend gewachsen. Immerhin sind Flügel selten ein früher, geplanter Zusammenschluss, um mehr Kontinuität und Übersichtlichkeit innerhalb der Gruppe zu schaffen, sondern vor allem ein Zusammenschluss von Gruppen, die schon über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte gut zusammengearbeitet haben und sich gegenseitig unterstützen und fördern wollen.

Und genau das ist natürlich auch die Gefahr, die darin gesehen wird: Dass man nun ohne das Wohlwollen eines der beiden Flügel weder zu einem Amt kommt noch seinen Antrag erfolgreich auf dem Parteitag durchbringen kann. Zudem wird das Kodifizieren von Strukturen als erster Schritt zu einem Verkrusten von Strukturen gesehen. Dagegen spricht natürlich wiederum, dass man oft auch oder gerade an unsichtbaren Strukturen und Hindernissen nicht vorbeikommt, dass es dann also besser wäre, diese zumindest sichtbar (=transparent) zu machen.

4 Vorschläge für Flügel bei den Piraten

Wie könnten nun also Flügel aussehen, die es doch einmal welche geben sollte? Ich denke, man kann das zum aktuellen Zeitpunkt auf vier verschiedene Optionen zuspitzen, die sich gegenseitig aber nicht ausschließen.

  • Inhaltliche Flügel: Der Konflikt zwischen Transparenz und Datenschutz, zwischen anonymer Meinungsäußerung und offener politischer Meinungsbildung ist in die DNA der Partei eingepflanzt. Die Streitigkeiten darum werden nicht einfach in einem Kompromiss verschwinden, sondern haben das Potential, zur Flügelbildung der Partei beizutragen.
  • Organisatorische Flügel: Schon früher gab es umfangreiche Diskussionen um den Umfang der Erweiterung des Parteiprogramms. Polemisch wurde dies Kernis versus Vollis genannt. Darüber mag man lachen – in der Zukunft werden jedoch Fragen auf die Piraten zukommen wie die nach dem Umfang der Forderungen für die Beteiligung an einer zukünftigen Regierungskoalition. Dort wird sich zeigen, wie die organisatorisch unterschiedlichen Ansätze und Vorstellungen sich vereinen lassen; eine mögliche Flügelbildung zwischen Pragmatikern und Idealisten könnte eine mögliche Folge sein.
  • Regionale Flügel: Schon bisher sind gewisse Unterschiede zwischen den Landesverbänden im Norden und denen im Süden zu spüren, die im Osten außerhalb Berlin sind aufgrund ihrer geringen Mitgliederstärke, Wahlerfolge und Repräsentanz in den Parteigremien noch wenig hörbar, werden aber voraussichtlich stärkeren Fokus auf soziale Themen legen. Zwischen progressiveren und konservativeren Landesverbänden könnten sich zwei oder mehr Flügel bilden, gerade wenn es auf Bundesebene um kontroverse Themen wie Suchtpolitik oder Asylpolitik gehen wird. Zugegeben ist das angesichts der stark über das Internet überregional vernetzten Mitgliederschaft nicht die wahrscheinlichste Möglichkeit.
  • Dynamische Flügel: Eine beliebige Kombination aus den oben genannten Möglichkeiten. Eventuell wird es mehrere leicht regional betonte Netzwerke geben, die sich sowohl um soziale wie auch andere kontroverse Themen ranken. Dabei wird es auch um Fragen nach Regierungsbeteiligung gehen. Abbilden und definieren werden sie sich dabei aber vor allem über die Vertrauensverbindungen in LiquidFeedback, wo sich auf die Sprecher und Köpfe der Flügel heraus kristallisieren.

Wie geht es weiter?

Das Feedback auf den Vortrag lässt darauf schließen, dass es, unabhängig davon, wie sich die noch junge Partei weiter entwickelt, auf absehbare Zeit keine offiziellen Flügel entstehen werden. Zu groß wird die Gefahr der “Old Boys# Netzwerke”, der Klientelisierung, der Verkrustung der Strukturen gesehen. Zu sehr wird darauf gesetzt, dass man neue Wege auf alte und neue Fragen finden wird und den Weg von mancher einst vielversprechenden Organisation vermeiden kann.

Fragen von so grundlegender Tragweite wie die, vor denen damals die Bolschewiki und die ach so bedauernswerten Menschwiki standen, stehen momentan auf absehbare Zeit nicht an. Das bedeutet, dass man die Frage nach der Flügelbildung auch noch eine Weile aufschieben kann. Eventuell wartet man auch einfach, bis es notwendig wird, bis es sich einfach durch die normative Kraft des Faktischen von selbst erledigt hat oder man findet vorher neue, innovative Wege, dies zu verhindern.

Eventuell macht es ja auch keinen Sinn, für die auf die neue Partei zukommenden neuen Fragen alte Antworten zu finden. Wenn die Konflikte um grundlegende Fragen doch stärker zunehmen, wird sich ohnehin zeigen, ob die bisherigen Möglichkeiten der Meinungsbildung und Mechanismen zur Repräsentanz der unterschiedlichen Gruppen ausreichen, um die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bekommen oder nicht.

Fabio Reinhardt, 30, ist Historiker und Abgeordneter für die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus.

Der Artikel ist unter der Creative Commons – Namensnennung 3.0 (cc-by 3.0) veröffentlicht.

2 Comments

2 Comments

  1. “Der Konflikt zwischen Transparenz und Datenschutz”
    Es gibt keinen Konflikt an dieser Stelle. Zumindest nicht, wenn man den Begriff “Transparenz” versteht und nicht mit einer wissentlichen Observierung verwechselt.

    “anonymer Meinungsäußerung und offener politischer Meinungsbildung”
    …sind ebenfalls nicht konfliktbelastet bzw. stehen sich diametral entgegen. Gerade das Recht auf anonyme Meinungsäußerung ist ein Garant für die offene (politische) Meinungsbildung. Leider wird der Wunsch auf Klarnamen oft falsch interpretiert. Es geht dabei nicht um das Sanktionieren von Meinungen sondern um das Einschätzen des “Gegenüber” und das damit verbundene Maß an Empathie und Verständnis das man ggf. aufbringen muss. Bei dem Einen manchmal halt mehr als bei dem Anderen.
    Das Unterscheiden gelingt an Erfahrungswerten mit dem Klarnamen. Natürlich gibt es keine Garantie dass der verwendete Klarname echt ist. Allerdings waren schlechte Manieren (oder Ordnungswidrigkeiten/Straftaten) noch nie ein Argument, eben Manieren und legales Handelns nicht einzufordern. 😉

    Pers. denke ich dass die Piraten sehr wohl bereits Flügel haben. Sie haben sich nur selbst keine Namen gegeben, weil sie sich dessen mitunter nicht bewusst sind, dass sie bereits “Flügel” geworden sind. Die “Kreise” der #7piraten sind genau so ein Flügel, wie die Spackeria, der Aluhüte oder der Gruppe42 (Die Noname Flügel auszuleichten würde hier den Rahmen sprengen). Interessant ist eigentlich eher wofür diese Flügel stehen. Nutzen sie Personalien oder nutzen sie den Zielen der Partei. Das ist es meiner Meinung nach woran sich ein Flügel messen lassen muss.

    Simon

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