Dodging the Bullet – Wie eine konservative Mehrheit für Madame Gallos Copyright-Dogmatismus ausgetrickst wurde

Zwei Dinge stehen fest: 1. Das Europäische Parlament ist eine komplizierte Maschinerie, in das sich einzufinden es eine lange Zeit braucht. 2. Die aktuellen verschiedenen Initiativen auf europäischer Ebene, die alle darauf hinauslaufen, das freie Internet so wie wir es kennen, fundamental und dauerhaft zu verändern, sind derart zahlreich und unübersichtlich, dass sogar die Interessierten der„Netzgemeinde“, so so etwas denn überhaupt existiert, sie kaum noch überschauen. Gestern konnte ich beides gleichzeitig verifizieren.

Zu den oben erwähnten Einschränkungsversuchen gehören: Das Telecom-Package, das regelt, was geht und was nicht im Internet, mag manchen noch ein Begriff sein. Von Bürgerrechtsorganisationen aufgrund seiner Durchlässigkeit gegenüber Zensur- und Filterbestrebungen mit dem Slogan „Blackout Europe“ vehement bekämpft, von den Institutionen lange verhandelt, letztendlich dann im letzten Herbst in abgeschwächter aber immer noch schädlicher Version verabschiedet. ACTA ist momentan in aller Munde und zieht auch viel Medienöffentlichkeit auf sich. Das Handelsabkommen, das eigentlich nur für Markenschutz gedacht sein sollte und von einigen ausgewählten Ländern außerhalb jeglicher offizieller Institutionen verhandelt wird, hat das Potential, das Internet dauerhaft zu verändern und uns an Grenzen Kontrollen und Konfiszierungen wegen des vermuteten Besitzes von urheberrechtlich geschütztem Material zu bescheren. Gleichzeitig zieht die EU-Kommission ihre Strippen und schickt die (vergleichsweise) junge Mutter und EU-Kommissarin Cecilia „Censilia“ Malmström in den Ring, um das Parlament davon zu überzeugen, dass genau die Internet-Sperren, die erst kürzlich in Deutschland von allen Parteien als nicht zielführend und potentiell schädlich bezeichnet wurden, jetzt für das durch Kinderpornographie verschmutzte europäische Internet das Allheilmittel darstellen sollen. Denn, so Malmström überzeugend, es gehe doch um die Kinder.

Weniger bekannt, dabei aber langfristig ähnlich bedrohlich für das freie Internet ist der Gallo-Bericht. Benannt nach Marielle Gallo, einer Sarkozy-Abgeordneten (EPP) und Berichterstatterin im Rechtsausschuss des EU-Parlaments, stellt dieser Initiativbericht eine große Gefahr für die bisher meistens noch recht wohlwollende Haltung des Parlaments gegenüber einem freien Internet dar. Der Bericht ist schon seit über einem Jahr in Bearbeitung und behandelt mögliche Handlungsoptionen bezüglich illegalen Filesharings. Bedrohlich ist vor Allem, dass er von der Ausrichtung her stark an Kommuniqués der Kommission und des Ministerrats angelehnt ist, die schon mehrfach Netz-Einschränkungen zugunsten von Urheberrechtsinhabern gefordert haben.

So basiert der gesamte Gallo-Bericht auf der Annahme, dass Filesharing der Kreativwirtschaft schade – eine Behauptung, die nicht nur noch nie erfolgreich bewiesen werden konnte, sondern zu der La Quadrature du Net mittlerweile sogar bereits 15 Gegenstudien gesammelt hat. Inhaltlich ist der Bericht Wasser auf die Mühlen derer, die Netzsperren, 2 Strikes, 3 Strikes oder ähnliches befürchten. Er heißt ausdrücklich die “non-legislative measures” willkommen, die die EU-Kommission schon mehrfach von sich aus gefordert hat. Das könnte zum Beispiel heißen: Bandbreitendrosselung oder digitaler Todesstoß bei Verdacht auf Urheberrechtsverletzungen. Die Netzneutralität wäre aufgehoben und die Provider würden zu Hilfssherrifs ohne Richtervorbehalt gemacht.

Die Abstimmung ist für den Donnerstag, den letzten Tag der Straßburger Plenarwoche, die vom 5. bis 8. Juli andauert, angesetzt. Da der Bericht den Wirtschaftsausschuss im April mit 29:2 (Bei einer Enthaltung) und den Rechtsausschuss im Juni mit 15:9 Stimmen passiert hatte, musste trotz fleißiger Vorarbeit von Gallo-Gegnern innerhalb und außerhalb des Parlaments von einer Niederlage ausgegangen werden. Es wurden daher am Montag nur noch zwei Auswege gesehen: 1. Die Promotion eines Gegenentwurfs der Sozialdemokraten (S&D), der die Providerhaftung nicht beinhaltet, der aber bei den Liberalen (ALDE) auf Abneigung stößt, da er (wenn auch im unverbindlichen Sinne) das Wort Kulturflatrate beinhaltet. Oder 2. das Verschieben der Abstimmung über den Bericht auf die nächste Sitzung, die dann erst im September stattfinden würde. Dabei bestand allerdings das Problem, dass die Sozialdemokraten sich deswegen noch unschlüssig waren und die konservative Mehrheit im Parlament einer Verschiebung ablehnend gegenüber stehen würde.

Der Zeitplan war eng gestrickt, da die Verschiebung auf der geschäftsordnenden Sitzung um 17 Uhr anstand, direkt davor fanden noch die Fraktionssitzungen der Liberalen und der Sozialdemokraten statt. Beim Telefonieren mit FDP-Abgeordneten wurde jedoch klar, dass die Präsenz auf der Sitzung sogar noch geringer als an sonstigen Straßburg-Montagen sein würde. So einigte man sich auf der Sozialdemokraten auf die Linie, die Verschiebung zu forcieren und möglichst viele ihrer Abgeordneten strömten direkt aus der Sitzung in den Sitzungssaal. Gemeinsam mit einigen Verbündeten aus der liberalen Gruppe, den Grünen und Linken war die Mehrheit im stark unterbesetzten Parlament noch immer ungewiss. Vor der Abstimmung sprachen Daniel Cohn-Bendit (Grüne) und Martin Schulz (SPD) für und Manfred Weber (CSU) gegen die Verschiebung. Die Abstimmung fiel denkbar knapp aus. 135 Abgeordnete stimmten gegen die Verschiebung und 140 dafür. Da im Parlament insgesamt 736 Abgeordnete Stimmrecht haben, ist recht offensichtlich, wie viel Glück war, dass die Verschiebung gelang. Nun ist noch bis zum September Zeit, um den Widerstand zu sammeln. Genug Zeit, um den Liberalen zu erklären, dass Eingriffe in die Netzneutralität nicht besonders marktliberal sind, den Sozialdemokraten dass außerlegislative Maßnahmen unsozial sind, den Unltrarechten, dass die EU viel zu viel reguliert und den Konservativen am besten alles und das auch noch ganz besonders langsam. Die Straßburg-Aktivisten haben jedenfalls wertvolle Tage Zeit, um die Deklaration 12 gegen ACTA noch zu einem erfolgreichen Ende zu bringen oder ganz allgemein mit Abgeordneten zu sprechen.


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