Weder LiquidFeedback noch Kostenloskultur die Schuld geben

Nachdem schon wieder eine Antwort auf einen Blogpost zu lang wurde, poste ich ihn mal wieder in mein Blog. Es geht um diesen Artikel von Dirk Hillbrecht. Dazu mein Kommentar:

Hallo Dirk,
vielen Dank für den umfangreichen Artikel. Ich stimme dir nicht in allem zu, kann aber viele deiner Punkte nachvollziehen. Zu zwei Sachen wollte ich aber noch explizit antworten.

“Während ein ord­nungsgemäß eingereichter Parteiprogrammantrag eigentlich keine Chance hatte, auch nur am Rande gestreift zu werden, konnte ein abgelehnter Antrag zum Grundsatzpro­gramm problemlos im Parteiprogramm reüssieren. Sowas nenne ich Willkür in Reinkultur.”

Hier verwirrst du den Leser unnötig. Es gab Anträge zum Parteiprogramm, bzw. Grundsatzprogramm – diese Begriffe bezeichnen das selbe – die mit dem Zusatz GP gekennzeichnet waren und bald von der Redaktionskommission in einen Vorschlag für eine Erweiterung unseres aktuellen Programms eingearbeitet wird. Das andere waren Positionspapiere (PP) und Anträge zum Wahlprogramm (WP), was aber in der Realität das gleiche bedeutet: Die Piraten haben zu diesem Punkt offiziell Position bezogen – einen Anspruch, in irgendeinem Programm aufzutauchen, gibt es dadurch nicht.

Die Aussage dahinter teile ich aber. Während so manches gute Positionspapier (PP/WP) nicht behandelt wurde, da wir uns zu Beginn darauf geeinigt haben, nur über GP zu sprechen, haben manche grottenschlechte GP-Anträge es zur Verabschiedung als PP gebracht, da man sich ja in der Sache einig sei. So ein undemokratischer Prozess, der im Grund genommen nur ein Zugeständnis an das Unvermögen mancher Antragerarbeiter(!) ist, einen korrekten Antrag zu schreiben, den man mit gutem Gewissen in sein Grundsatzprogramm schreiben möchte, lädt geradezu dazu ein, in Zukunft nur noch GP zu stellen, wenn man ein PP verabschiedet haben möchte.

“Eine andere Möglich keit zu höherer Effektivität wäre, die Qualität der Anträge zu stei­gern. Hier muss man ganz klar sagen, dass Liquid Feedback eine eher unrühmliche Rolle gespielt hat.”

Hier würde ich dir deutlich widersprechen. Du hast in deinem Artikel korrekt die Probleme aufgezeigt, die dazu führten, dass wir teilweise über sehr schlechte Anträge debattierten. Ich persönlich war auch sehr enttäuscht davon, dass die Piraten im Axel Müller-Verfahren einen Block, der zum größten Teil dämliche/überflüssige Anträge enthielt (Transparenz) und einen, der gar keine (!) GP-Anträge enthielt auf die obersten Plätze hievten. An dieser Stelle muss ganz klar auf die Sitzungsleitung (die es versäumte, den Teilnehmern in übersichtlicher Form darzustellen, über WAS sie jetzt Axel Müllern soll) und die Antragskommission (bzw. ihre eingeschränkten Möglichkeiten, dazu blogge ich aber selbst noch unter htt://enigma424.wordpress.com ) verwiesen werden.
Liquid Feedback als Tool verantwortlich zu machen, halte ich für extrem unsinnig. Wenn nun jemand jede Forderung, die sich im Wiki versteckt als Antrag gestellt hätte, hättest du dann das Wiki verurteilt? Wenn jemand jede Forderung, die im Internet steht, … du siehst wohin das führt. Dass dies aber nicht mit dem Internet geschah, sondern mit LF, zeigt, welch hohe Qualität die Anträge dort schon erreichen. Der Fehler war also ganz eindeutig, sich nicht vor Vermassung zu schützen, besser vorzusortieren und auch früher festzulegen, was überhaupt auf dem Parteitag besprochen werden soll.

BTW, genausogut hätte man sagen können, es war ein Fehler der Teilnehmer über Anträge, die eine überwältigende Mehrheit in LF hatten, überhaupt diskutieren zu wollen – eine Aussage, die ich so natürlich nicht treffen würde, die aber genau so logisch ableitbar wäre wie deine obige.

“Ob das auch mit der „Kostenlosmentalität” vieler Teilnehmer zusammen hängt? Wer für kleines Geld anreist und für lau übernachtet, dem ist es vielleicht auch weniger wichtig, dass ein solches Zusammentreffen ergebnisorientiert abläuft. Das ist dann aber denjenigen gegenüber umso unfairer, die Zeit und Geld für dieses Wochenende investiert haben — und gegen über den politischen Zielen der Piratenpartei.”

Wie ich oben schon geschrieben habe, war ich auch von einigen Entscheidungen des Plenums recht enttäuscht. Auch deine Kritik, dass wir viel zu lange über nicht diskussionsrelevante Punkte diskutiert haben, teile ich. Dies jedoch auf die zu geringen Kosten (lies:Hürden) für die Anreise zu reduzieren, halte ich für völlig in die falsche Richtung gehend. Wir haben tatsächlich ein Demokratiedefizit auf Parteitagen. Denn die Anreisekosten sind für die Mitglieder unterschiedlich hoch. Wer vom Veranstaltungsort weit entfernt wohnt, der zahlt mehr. Wer weniger verdient, der empfindet die Kosten als höher als die anderen. Beide dieser Mängel fallen durch ein Delegiertensystem bzw. eine Fahrtkostenübernahme für Teilnehmer nicht an.

Unser Ziel sollte es aber sein, ALLE Hürden für politische Beteiligung zu reduzieren, für Beteiligung IN der Piratenpartei natürlich erst recht. Bis wir also eine wirklich gute Lösung für die momentane sehr unbefriedigende Situation erschaffen haben (dezentrale Parteitage oder ähnliches), müssen wir zumindest alle anderen Beteiligungshürden so stark wie möglich senken. Durch das Zurverfügungstellen von Schlafplätzen (Abbruchhaus/Halle) und das Organisieren von gemeinsamen Fahrten (zB die kostenlose Busfahrt von Berlin, die ich für Bingen organisiert habe) kann man die anfallenden Kosten für Teilnehmer soweit reduzieren, dass man das Demokratiedefizit zumindest etwas mindert.

Was wir aber beide kritisieren, ist eigentlich mangelnde Vorbereitung und Trollerei. Dies ist natürlich seit Beginn der Partei als auftauchendes Problem bei geringen politischen Hürden bekannt. (Ich erinnere dich an unsere Diskussionen 2007/2008 über die Trollerei auf der NDS-ML) Und Trollerei kann auch durch ein Delegiertensystem nicht verhindert, ausreichende Vorbereitung und Abstimmen nach dem eigenen Gewissen nicht erzwungen werden. Das heißt, die Partei muss ich selbst schützen, indem sie sich sinnvolle Strukturen gibt und stärker führt, lenkt und informiert. Von der Aussage, dass die zu geringen Anreisekosten, wichtige Arbeit behindert hätten, würde ich dir insofern eine Distanzierung empfehlen.

Es grüßt in die (Ex-)Heimat,
Fabio

2 Comments

2 Comments

  1. Hi Fabio,

    danke für deine Anmerkungen. Ich verwechsle ständig die Bedeutung des “PP” in den _P_ositions-_P_apier-Anträgen mit dem _P_artei-_P_rogramm. Es ändert aber nichts daran, dass das Behandlungsverfahren auf dem Parteitag die Qualität massiv in den Keller gezogen hat.

    Ich habe auch nichts gegen Liquid Feedback als System – abgesehen davon, dass ich es in der jetzigen Form für zu kompliziert zu bedienen halte, aber das ist nur eine Frage der Zeit und nichts Grundsätzliches. Aber der Umgang damit war eine Katastrophe, siehe den Haufen an Blödsinnsanträgen. Und das, wo wir in Bingen beschlossen hatten, eben _dieses_ Tool vorrangig zur Vorbereitung des Parteitages einzusetzen. Tatsächlich war die Mehrzahl der sinnlosen Zeitfresseranträge aus dem Liquid-Feedback-System übernommen und deshalb muss man Liquid Feedback bzw. den Umgang der beteiligten Piraten damit schon als definitiv nicht förderlich für einen ergebnisreichen Parteitag ansehen.

    Schließlich geht es mir auch _nicht_ darum, Piraten durch finanzielle Hürden vom Parteitag abzuhalten. Aber du wirst bestätigen: Je weniger dich etwas kostet, desto weniger kritisch bist du auch mit seinen Ergebnissen. Viele Piraten machen sich meines Erachtens gar keine echten Gedanken darüber, was ein Parteitag für die Partei und ihr politisches Profil bedeutet. Das lässt sich nur ausgleichen, indem Vorstand und Versammlungsleitung die Zügel straff in der Hand halten. Die Versammlungsleitung hat das ziemlich gut hinbekommen, der Vorstand hat meines Erachtens im Vorfeld des Parteitages die Weichen falsch gestellt, indem die Möglichkeit zum endlosen “Debattieren” unsinnigsten Blödsinns wichtiger eingeschätzt wurde als eine möglichst umfassende Abstimmung der eingereichten Anträge.

    Dass letzteres bei vielen Piraten auf keine Gegenliebe gestoßen ist, könnte übrigens auch psychologisch bedingt sein. Wenn wir nämlich so gearbeitet hätten, dann hätte plötzlich jeder sich mit jedem Scheiß beschäftigen müssen, der da in Antragsform gegossen worden ist. So konnte man sich bequem an den dreieinhalb Leuchtturmanträgen erfreuen, für die die Zeit gereicht hat, und hinterher alles supi finden. Mit ELWS oder einem ähnlichen Verfahren wäre der Versammlung mal der Spiegel vorgehalten worden, wie viel Müll da in diesem Antragsbuch stand. So musste man sich nur mit einem Teil des Mülls beschäftigen – auf Kosten mancher sehr guter Ausarbeitungen, die nun unter die Räder gekommen sind. Sehr ärgerlich das ganze…

  2. Liquid Feedback ist nicht Schuld http://t.co/MR0oclj via @enigma424

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